„Papier — selbst ein Fetzen wie dieser, überlebt…“

„But words are things, and a small drop of ink,
Falling like dew, upon a thought, produces
That which makes thousands, perhaps millions, think;
‚T is strange, the shortest letter which man uses
Instead of speech, may form a lasting link
Of ages; to what straits old Time reduces
Frail man, when paper—even a rag like this,
Survives himself, his tomb, and all that ’s his.“

Lord Byrons Zitat aus seinem epischen Gedicht „Don Juan“ drückt das Motiv des leidenschaftlichen brasilianischen Autographensammlers Pedro Corrêa Do Lago aus: Ein persönliches Schriftstück überdauert seinen Urheber über den Tod hinaus und geschriebene Worte regen „Tausende, vielleicht Millionen zum Nachdenken“ an.

Handschriften funktionieren wie Zeitmaschinen

Ein handschriftlich verfasstes Dokument regt nicht nur zum Nachdenken über den Inhalt an, es regt auch die Vorstellungskraft des Betrachters über den Urheber an: Es scheint, wie wenn einem Geist und Seele des Schreibers plötzlich ganz nah sind. Unabhängig davon, ob man den Menschen persönlich kannte, es springt etwas Lebendiges ins Auge des Betrachters, auch, oder vielleicht gerade dann, wenn ein Mensch schon längst gestorben ist. Man erinnert, was man über den Schrifturheber weiß, was man für ihn empfand, was man mit ihm erlebte, was man von und über ihn las. Jedes handgeschriebene Original, ein Autograph insbesondere, ist anschauliche Zeitgeschichte, insofern sie von Früher ins Jetzt gerettet wurde. Und zweifelsohne: Es geht ein „Zauber“ aus von solchen Dokumenten, sie berühren einen. Pedro Corrêa Do Lago drückt es nach 50 Jahren Autographen sammeln so aus:

„Ich selbst habe festgestellt, dass Handschriften eine greifbare Verbindung zur Vergangenheit darstellen und wie eine Zeitmaschine funktionieren, die uns auf wundersame Weise mit Menschen verbindet, die diese Papiere vor uns und in der Zeit, in der sie lebten, berührt haben. Diese Stücke sind das engste Band, das wir zu diesen Individuen herstellen können, und sie erlauben uns, ihre Emotionen zu teilen oder an Ereignissen teilzunehmen, die weit vor unserer Geburt stattfanden.“

Pedro Corrêa Do Lago in Zauber der Schrift, S. 40 (1. Auflage 2019)
Ad poenitendum properat, cito qui indicat.

Von Handschriften geht ein Zauber aus

Von diesem Zauber wurde ich ergriffen, als ich dieses wunderschöne Buch im Mai 2020 als Geburtstagsgeschenk erhielt. Meiner Angewohnheit folgend, Bücher immer von hinten her anzusehen und sich bei Fach- und Sachbüchern erstmal das Stichwortverzeichnis und die Bibliographie anzusehen, entdeckte ich sogleich die „Provenienzen“ mit den entsprechenden Seitenangaben. Mein philosophisch geschulter Blick fiel auf die Rubrik „Philosophie“, welche Autographen der von mir geschätzten Denker Smith, Kant und Wittgenstein enthält. Auch, wenn es keine Originale sind, so sprang der Funke über. Besonders bei dem hier abgebildeten Schriftstück des Professors für Logik und Metaphysik, Immanuel Kant, verweilte ich lange (S. 398). Den Blick konnte ich nicht ablassen von der außergewöhnlichen Kombination aus

  • einem gut strukturierten Schriftstück mit einer
  • unprätentiösen, ästhetisch ansprechenden und lesbaren Handschrift,
  • einer eleganten Silhouette und
  • dem schlichten und so wahren lateinischen Satz „Ad poenitendum properat, cito qui iudicat“.

Inhalt und Form gehen Hand in Hand, erstaunlich. Leider gibt es keine Autographen von hervorragenden Denkerinnen, wie beispielsweise Lucretia Marinella, Rosa Luxemburg oder Hannah Arendt, aber hier wird Corrêa Do Lago vielleicht beim einem zweiten Band in seinen 100.000 Autographen etwas Tolles hervorzaubern.

Eine zweite Provenienz der Autographen hat in der Folge meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen: Die Wissenschaft. Ein Schriftstück von Alan Turing hatte ich noch nie gesehen. Spannend. Die Handschrift von Einstein hat schon das eine oder andere mal meine Wege gekreuzt, aber Briefe in dieser Länge, zwei abgedruckte Briefseiten, und vor allem ein derart interessanter Inhalt, waren mir neu. In diesem rechts abgebildeten Brief (S. 241) an seine ehemalige Frau schreibt Albert Einstein im Jahr 1932 abschließende Worte, die inhaltlich etwas „Zeitloses“ haben:

Handschrift von Albert Einstein

„Hier ist auch Krise und furchtbare Arbeitslosigkeit. Überall wird abgebaut und kein Ende ist abzusehen. Auf keinerlei Besitz ist heute Verlass, nur auf Gesundheit und persönliche Tüchtigkeit. Mach Dir nicht so viele Sorgen, sondern nimm es hin, wie es kommt. Was ist schon Furchtbares über diese Erde hingegangen und doch blühen die Blumen und singen die Vögel. Die Natur schont das Individuum nicht, und man muss sich vom eigenen Schicksal loslösen, so gut es gehen mag.“

Buchinformation zu „Zauber der Schrift. Sammlung Pedro Corrêa do Lago“

von Julius Wiedemann (Herausgeber), Christine Nelson (Autor)

  • Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
  • Verlag: TASCHEN (23. Mai 2019)
  • Sprache: Deutsch
  • ISBN-10: 3836575191
  • ISBN-13: 978-3836575195