Verhängnisvolle Schriftähnlichkeit: Die Dreyfus-Affäre

Von einigem Medieninteresse begleitet, kam Ende 2019 die Verfilmung der Dreyfus-Affäre von Regisseur Roman Polanski ins Kino. Aus graphologischer Sicht ist diese Affäre besonders interessant, weil eine Graphologin den entscheidenden Nachweis dafür gab, dass der Schrifturheber des als Spionage angesehenen Schriftstückes nicht Dreyfus war. Die Graphologin war Laura von Albertini, die unter dem Namen L. Meyer bekannt war.

„J’accuse“ schrieb Emile Zola im Jahre 1898 in einem offenen Brief an den Präsidenten der Republik Frankreich. Der Brief, eigentlich ist es ein Appell, erschien in der Zeitung „L’Aurore“. Zola klagte hohe Militärs an und unterstellte ihnen bewusste Irreführung. Es sei z. B. Beweismaterial im Prozess gegen den Offizier Alfred Dreyfus unterdrückt worden. Ein Ergebnis war, dass Zola wegen Verleumdung der Armee zu einem Jahr Gefängnis und der Zahlung von 3000 Franken verurteilt wurde. Daraufhin floh er nach England.

Das Bordereau. Quelle.

Was war geschehen im Jahre 1894?

Es war der französischen Spionageabwehr gelungen, ein Schriftstück an sich zu bringen, das an den deutschen Militärattache gerichtet war. Es bezog sich auf eine hydraulische Bremse, auf Truppenstellungen und dergleichen. Das Papier trug weder eine Unterschrift noch ein Datum. Im Verlauf der Affäre wurde es das „Bordereau“ genannt. Wie war das aufschlussreiche Papier an die Deutschen gelangt? Es musste doch ein Artillerist gewesen sein, ein Angehöriger des Generalstabs, der es den feindlichen Deutschen zugespielt hatte. Der Verdacht führte zu Alfred Dreyfus, der das Bordereau teilweise mit verstellter Handschrift geschrieben haben sollte. Ein Gutachten vom Schriftsachverständigen der Bank von Frankreich gab keine klare Auskunft. Mehrere Gutachten von Graphologen kamen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Drei Graphologen waren der Meinung, Dreyfus hätte das Bordereau geschrieben, zwei nicht. In dieser Zeit hatte Jean Hippolyte Michon sein „System der Graphologie“ schon geschrieben. Dreyfus wurde festgenommen. Er wurde degradiert und auf die Teufelsinsel nahe Guayana verbannt. Die Angelegenheit war im Volk bekannt geworden fand immenses öffentliches Interesse. Ein weiterer Offizier kam ins Blickfeld, Henry Esterhazy, dessen Handschrift tatsächlich der des Dreyfus sehr ähnlich war.

Commandant Dreyfus nach seiner Rehabilitation mit Journalisten. Quelle.

In der Zeitschrift „Über Land und Meer“ veröffentlichte L. Meyer (Laura von Albertini) im Jahre 1887 ein Expose über die Bordereauschrift. Ohne die Schrift des Esterhazy zu kennen, stellt sie fest, dass trotz aller oberflächlichen Ähnlichkeit der Handschriften des Bordereau und des Dreyfus dieser das Papier nicht verfasst haben kann. Esterhazy hat später einmal seine Urheberschaft eingeräumt.
Am 10. November 1897 wurde über die Bordereauschrift ein Expose veröffentlicht. Es handelte sich lediglich um die Frage „kann Dreyfus das Bordereau geschrieben haben oder nicht“. Das Ergebnis war trotz einer oberflächlichen Ähnlichkeit, dass die Schrifturheber (nun Esterhazy) zwei total verschiedene Charaktere haben. Die Militärgerichte, die Presse und die öffentliche Meinung kamen zu keinem überzeugenden abschließenden Urteil. Noch immer sind die deutschen Geheimarchive in dieser Angelegenheit verschlossen, allerdings aus Gründen, die mit der Affäre Dreyfus nichts zu tun haben.

Der Graphologe Robert Bollschweiler beschreibt diese Mixtur aus politischem, vaterländischem und karrierebewusstem Vorgehen der betroffenen Instanzen ausführlich in „Histographologika“ (Hrsg. Kaspar Halder, Verlag: Suhr, Edition Redlah (Eigenverlag), 1999, 1. Auflage). Interessant in Bezug auf die Schriftvergleichung ist, dass seinerzeit mindestens drei, wahrscheinlich aber mehrere, „Gutachter“ zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen. Mögen die Ergebnisse auch nicht ganz frei von den Interessen der jeweiligen Auftraggeber gewesen sein, so hatte man damals wohl auch noch nicht den selbstverständlichen Zugang zu verbindlicher Fachliteratur.