Scherenschnitt: Eine Zeitreise mit Stift, Schere und Papier

Der letzte Beitrag auf der Internetseite des Deutschen Scherenschnittvereins trägt den Titel: „Auflösung des Deutschen Scherenschnittvereins e.V.“, weil sich seit 2016 kein neuer Vorstand finden lies. Auch die zum Verein zugehörige Zeitschrift „Schwarz auf Weiß“ wurde eingestellt. Bedenklich. Schaut man zurück in die Vergangenheit, gab es Ende des 19. Jahrhunderts mal eine Zeit, da war es günstiger und schneller ein Portrait-Scherenschnitt anfertigen zu lassen anstatt ein aufwendiges und kostspieliges Ölportrait malen zu lassen. Wer damals versiert war im Anfertigen eines Scherenschnitts, konnte sich sogar seinen Lebensunterhalt verdienen, indem er z. B. auf Jahrmärkten arbeitete. Es war eine sogenannte „Schnelle-Brotkunst“. Doch das ist lange her und heute undenkbar.

Aber steht es wirklich so düster um den Scherenschnitt? Im Rahmen von Kunstausstellungen, älteren oder aktuellen Darstellungen des Volkstums, Glückwunschkarten oder Kunsthandwerksmärkten trifft man immer wieder mal auf Scherenschnitte. Auch namhafte Persönlichkeiten wie der französische Maler, Grafiker, Zeichner und Bildhauer Henri Matisse oder die deutsche Scherenschneiderin, Silhouetten-Animationsfilmerin und Buchillustratorin Lotte Reiniger, nutzten Scherenschnitte. Obgleich die aus China stammende Kunst des Scherenschnitts in Europa ihre Blüte zur Zeit des Jugendstils hatte, gibt es auch heute noch Menschen, die Scheren- bzw. Papierschnitte anfertigen. Zu diesen gehört die ehemalige Münchner Grundschullehrerin Gudrun Haera. Auch für Gudrun waren Scherenschnitte im Laufe ihres Lebens ein kleiner Nebenerwerb. An einem sonnigen Augusttag im Jahr 2022 erzählt mir Gudrun, wie sie zum Scherenschnitt kam, erklärt Historisches über dieses Kunsthandwerk, zeigt mir Bücher und beschreibt, was Scherenschnitt im allgemeinen und für sie im Speziellen bedeutet. Selbstverständlich zeigt sie mir auch, wie man Scherenschnitte anfertigt und ich durfte sie dabei filmen und fotografieren.

Wie kam Gudrun Haera zum Scherenschnitt?

Während ihres Studiums reiste Gudrun Haera mehrmals im Monat mit dem Zug von Greiz nach Altenburg. Um die Zeit sinnvoll zu nutzen, fing sie an, Scherenschnitte zu kreieren. Von Kindheit an war sie eine begabte Zeichnerin: Mit fünf Jahren erhielt sie bereits den ersten Zeichenunterricht und hat sich mit dem Zeichnen ihre eigene Welt erschaffen. Das Zeichnen konnte sie später gut mit dem Scherenschnitt verbinden: Die Motive zeichnete sie für ihre Scherenschnitte vor und konnte diese durch den Scherenschnitt plastischer und lebendiger werden lassen.

Ihre künstlerische Begabung kultivierte im Laufe ihres Lebens und fertigte für private Anlässe, aber auch als kleines Zubrot, Scherenschnitte an. Sie traft sogar vor sehr vielen Jahren im Zug einen Karikaturisten, der sie gern als Künstlerin engagieren wollte nachdem er sie auf der Fahrt beim Zeichnen und Anfertigen von Scherenschnitten beobachtete. Ihr Beruf als Lehrerin und ihre Familie waren ihr allerdings wichtiger als die berufliche Ausübung ihrer künstlerischen Fähigkeiten.

Kombination von Scherenschnitt und Schattentheater

Auch in ihrem Beruf nutzte Gudrun Haera ihre Scherenschnittkompetenz: Als Lehrerin fertigte sie öfter mit ihren Grundschulkindern Schattenspielfiguren an. So kombinierte sie die Form des Theaters mit beweglichen Scherenschnitten. Im Schattentheater werden zwei- oder dreidimensionale Figuren, die auf Form und Umriss reduziert sind, dicht hinter einer Leinwand geführt und dazu wird eine Geschichte erzählt. Das Schattentheater findet zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Silhouetten- und Animationsfilm eine Weiterentwicklung. 1926 erschien der Animationsfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ der bekannten Animatorin Lotte Reiniger. Im Film treten elegante, märchenhafte Gestalten aus Tausendundeiner Nacht auf, deren Bewegungen sich an klassische Musik anpassen. Der älteste erhaltene Zeichentrickfilm aus Schattenfiguren ist leider nicht mehr im Original erhalten, wurde aber rekonstruiert und kann unter diesem Link angeschaut werden.

Was bewirken Scherenschnitte?

Aus Gudruns Sicht beflügeln Scherenschnitte die Phantasie und können faszinieren. Und zwar auf beiden Seiten können Phantasie und Faszinosum entstehen: Auf der Seite dessen, der den Schnitt anfertigt, und auf der Seite des Betrachters. Des Weiteren muss man, wenn man ein ansehnliches und ausdrucksvolles Resultat erreichen will, sich voll und ganz auf das Schneiden und das jeweils auszuschneidende Objekt konzentrieren. Man kann in diesem Moment keine Probleme wälzen, schaltet die Vergangenheit und die Zukunft ab und fühlt sich einfach gut dabei.

Was benötigt man zur Anfertigung eines Scherenschnitts?

  • Zeichnerisches Talent oder eine Schnittvorlage.
  • Silhouettenschere. Alternativ kann man auch eine Stickschere zweckentfremden. Man muss selbst herausfinden, mit welcher Schere man am besten zurecht kommt und für was man sie einsetzt (für gröbere oder feinere Schnitte).
  • Für Scherenschnitt-Fensterbilder: Schwarzes Tonpapier bzw. ungummiertes Scherenschnittpapier. Die Wirkung von schwarzem Tonpapier hat den höchsten Kontrast, wenn das Sonnenlicht drauf scheint.
  • Für Scherenschnitt-Karten: Gummiertes Scherenschnittpapier zum späteren Aufkleben auf eine Karte. Damit kann man sehr gut kleine, zarte Sachen ausschneiden.
  • Zu guter Letzt benötigt man eine ruhige, geschmeidige und entspannte Hand. Essentiell sind des Weiteren ein gutes Vorstellungsvermögen, Gestaltungskompetenz und Konzentration.
  • Benötigt man einen Kurs? Nein, nicht unbedingt, man kann sich den Scherenschnitt auch autodidaktisch beibringen.

Scherenschnittvideos: Wie geht man zur Erstellung eines Scherenschnitts vor?

Gudrun Haera fertigt innerhalb von einer Minute ein kleines Motiv für den Scherenschnitt an
Gudrun beginnt mit dem Ausschneiden ihres vorgezeichneten Motivs
Ein ausdrucksvolles Gesicht eines Scherenschnitts in einem Zug schneiden
Den Scherenschnitt vollenden
Fertige Scherenschnitte von Gudrun Haera

Arten von Scherenschnitten

Es gibt ganz verschiedene Arten und Schwierigkeitsgrade von Scherenschnitten. Der Faltschnitt gilt als einfachster Schnitt. Hierbei entsteht eine Figur, die durch das Falten eines Blatt Papiers und das anschließende Ausschneiden der einen Hälfte eine achsensymetrische Teilfigur entlang der Faltkante entsteht lässt. Nach Fertigstellen wird das gesamte Motiv sichtbar. Diese Art des Scherenschnitts eignet sich besonders gut für Anfänger und Kinder. Es schult zudem das räumliche Auffassungs- und Gliederungsvermögen.

Portraits bzw. die klassische Silhouette dagegen erfordert ein geübtes Maß an Scherenschnittkompetenz. Ein Gesicht muss in einem durchgeschnitten werden, damit die Proportionen stimmen. Man muss beim Betrachten des echten Gesichts oder des Abbilds bereits die Proportion erfassen und diese im Scherenschnitt in einem Guss nachschneiden. Hierbei können Feinheiten wie z. B. Wimpern sichtbar sein. Besonders wichtig, sagt Gudrun Haera, sind die kleine Rundungen und Biegungen. Man dürfe nicht nur stur nachschneiden, sondern den Prozess des Schneidens selbst beobachten, mitdenken und flexibel reagieren während des Schneidens.

Gängige Scherenschnittmotive

Neben Menschen als ganze Gestalten oder Portraits gibt es eine große Bandbreite an weiteren Motiven. Beliebt seien beispielsweise Tiere oder Pflanzen. Das Wichtige sei laut Gudrun allerdings nicht das Motiv selbst, sondern der geistig-emotionale Ausdruck des Motivs. Insofern ist jedes Motiv möglich, auch gesellschaftskritische Motive. Mit einem Scherenschnitt möchte man laut Gudrun Haera in der Regel das Schöne hervorheben und nicht das Häßliche überzeichnen, wie dies oft bei Karikaturen der Fall ist. Doch gibt es auch diese Art von Scherenschnitt, der kritische und „unschöne“ Dinge sichtbar macht.

Die obige Abbildung dient als Beispiel hierfür. Sie entstammt den Händen des Zeichners und Grafikers Wolfgang Niesner und zeigt einen seiner Scherenschnitte, der den Titel trägt: Wenn das Wohnumfeld ins Wanken gerät. Dieser Scherenschnitt ist inspiriert von der Wohnumgebung Neuperlach in München. Ein weiterer wichtiger Münchner Künstler des 19. Jahrhunderts, der durch seine Scherenschnitte Gesellschaftskritik übte, war Graf Franz Ludwig Evarist Alexander von Pocci.

Weiterführende Literatur